“Mein Herz hüpft schneller, als die Kolben des hochtourigen Motörchens meiner fahrenden Sardinenbüchse.”
~ im Auto
„Dein Anmeldeformular wurde im System gespeichert.“ Schön und gut. Und nun? Das World Wide Web weiss auf alle Fragen zig tausend Antworten. Bei meinem Glück aber, hatte ich eine Frage, welche mir auch das Internet nicht beantworten konnte. Würde ich eine Reaktion auf mein eingesandtes Video erhalten? Und wann würde dies sein? Nichts. Nada. Vielleicht stellte ich aber einfach die falschen Fragen. So blieb nichts anderes übrig, als mich wieder dem Alltag hinzugeben. Der war ohnehin schon reichlich gefüllt, als dass ich zu oft, zu viele Gedanken an die digitale Verwertung meines musikalischen Ergusses verlieren konnte. Das Anmeldeprozedere wurde also wieder aus meinem Frontallappen entfernt und machte anderen Dingen Platz. Das Kleinhirn aber machte die Schotten dicht und sandte Reminder im Stundentakt. Doch noch ehe ich mich darüber nerven konnte, rüttelte Evas Stolperstein in meiner Jackentasche. Eine neue Mail lag im Postfach. Schon lange wollte ich eigentlich diesen Dienst deaktivieren. Benachrichtigung in Echtzeit. Super. Ich fühle mich schon gestört, wenn sich Klinkenputzer erfrechen, zu Unzeiten vor der Haustüre zu feilschen und mir Anrufer ihr vierundzwanzig-Stunden-auf-Empfang-Leben aufzwingen wollen. Wieso sollte dann also mein mobiles Helferchen das Recht erhalten, dies tun zu dürfen? Schliesslich bezahle ich dessen Dienste mit teurem Kauf- bzw. Abopreis. Also möchte ich entscheiden können, wann mich die Kiste belästigen darf und wann eben nicht. Echtzeit nervt. Immer. Meistens. Manchmal.
Diesmal nicht. Die eingegangene Mail zeigte mir eine Einladung. War das wirklich möglich? Hatte ich doch die Anmeldung erst vor zwei Tagen abgeschickt. Wow. Mein Musikerherzchen erhöhte stolz die Taktfrequenz. In zehn Tagen sollte ich zum Vorsingen erscheinen und dazu drei Songs vorbereiten. Aha. Vorsingen? Das habe ich wohl bei meiner Uploadsession übersehen. Nun dann. Wie sollte ich mich auch dagegen wehren, bin ich doch derjenige, welcher von meinen Schülerinnen und Schülern verlangt, dass sie, in guter alter Manier, ein- bis zweimal im Jahr vorsingen und als „Dank“ dann auch noch benotet werden. So galt es, sich gut vorzubereiten und eine möglichst gute Benotung abzuholen.
Die Wahl für den geforderten Hauptsong fiel mir denkbar leicht. How do you know? Da gab‘s kein Zögern. Einiges schwieriger gestalteten sich die Besetzung der Plätze zwei und drei. Ich kramte deshalb alle auffindbaren, hand- und maschinengeschriebenen Setlisten hervor. Unter all den Songs, welche ich in den letzten zwanzig Jahren (Waaas?) gesungen habe, mussten sich doch zwei passende finden lassen.
Fündig geworden, verbrachte ich die kommenden Tage mit Proben. Dabei galt mein Augenmerk vor allem dem Auswendiglernen der Songtexte. Denn die Blösse, einen Texthänger zu produzieren, wollte ich mir nicht geben. Die Zeit verging im Fluge. Passenderweise war für den Tag-X an meiner Schule eine Weiterbildung angesagt. Der Nachmittagsunterricht fiel so aus und ich hatte genügend Zeit um ganz gemütlich mit meiner fahrenden Sardinendose zum Vorsingen zu cruisen.
Na ja. Gemütlich war der Plan. Hochfrequenzpulsieren die Realität. Während der ganzen Fahrt vom Start- zum Zielort hämmerte mein Herz in einer, mir bis anhin unbekannten, ungemütlichen Art und Weise, welche mir doch irgendwie Unbehagen bereitete. Nachdem ich meinen Wagen, nach einer schier endlosen Fahrt in Glattbrugg abgestellt, das Parkticket gelöst und meine Gitarre geschultert hatte, nahm ich noch eine grosse Ladung Sauerstoff zu mir, ehe ich die grosse Glastüre der Casting Agentur durchschritt und den Lift bestieg. Oben angekommen, fand ich mich inmitten von gesangswilligen Weiblein und Männlein wieder. Von ganz jung und frisch bis nicht mehr ganz so jung und nicht mehr ganz so frisch war alles vertreten. Wobei sich meinereiner wohl eher bei den Letztgenannten einzureihen hatte. Sogleich wurde ich freundlich empfangen und katalogisiert. Kandidat Nr. 24093. Noch schnell ein Foto geschossen und fertig war die Eintrittsvisite in den Castingknast. Na ja, ganz so schlimm war‘s nicht. Auch denke ich mir, dass Vollzugsanstalten, wohl nicht so nette Wärterinnen und Wärter zu bieten haben. Gott, oder wer auch immer, bewahre, dass ich das nie herausfinden und diesen Vergleich nicht antreten muss. Während den folgenden drei Stunden wurde meine Kompetenz im Warten auf die Probe gestellt. Ich vertrieb mir die Zeit mit Kaffee trinken, dem Verzehr von Bananen und Äpfeln und gelegentlichem Gitarrenspiel. Meine Ohren schickte ich dabei auf Wanderschaft um die Konkurrenz auszuhorchen. Meine einzige offizielle Aufgabe bestand darin, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen und damit zu bestätigen, dass ich verstanden habe, was ich im Zusammenhang mit dem heutigen Casting alles darf und vor allem nicht darf. Als ich schon fast nicht mehr daran glaubte und schon befürchtete demnächst, freundlich aber bestimmt, nach Hause geschickt zu werden, um dann am kommenden Tag hier drinnen noch einmal in den Wartemodus zu verfallen, wurde ich von einer „Wärterin“ abgeholt. Wahrscheinlich gab es noch einmal ein Formular auszufüllen oder eine Information anzuhören? Weit gefehlt. Auf meine Frage, ob ich denn die Gitarre kurz im Aufenthaltsraum stehen lassen könne, erhielt ich ein schweisstreibende Antwort. „Ne, ne, mitnehmen. Du bist gleich an der Reihe.“ Bamm. Da war er wieder. Deutlich spürbar. Ich glaube sogar, er war zu hören. Mein Puls sprang von gefühltem „leicht wippend“ auf schätzungsweise 240 Schläge pro Minute, oder so. Auf alle Fälle in einen ziemlich hohen Bereich, welcher die Festigkeit meiner inneren Organe hart auf die Probe stellte. Die Distanz zur Eingangstüre des „Verhörraums“ wurde immer kleiner. Der Abstand meiner Herzschläge auch. Es hämmerte und pochte wie wild in meinem Innern. Kurz noch einmal tief durchatmen.
Der „Verhörraum“ war mit Teppich belegt. Am Boden? Natürlich. An den Wänden? Auch. An der Decke? Keine Ahnung. Fenster suchte man vergebens. So, wie man sich eben einen Verhörraum vorstellt. So, wie aber auch ein idealer Aufnahmeraum für Musikproduktionen ausstaffiert sein sollte. Keine harten Flächen und somit keine Reflexionen die den puren Sound beeinflussen könnten. Bevor ich aber den puren Sound meiner Stimme zum Besten geben konnte, wurde die Technik neu kalibriert und die Aufnahme vorbereitet. Ich setzte mich schon mal auf den mittig stehenden Barhocker und schaute mir den „Haftprüfungsausschuss“ an. Ich weiss heute nicht mehr genau, wie viele Personen anwesend waren. Es mussten so ungefähr fünf bis sechs gewesen sein. Aber eines hatten sie alle gemeinsam. Würde Lady Gaga ihr Video zu „Pokerface“ überarbeiten wollen, ich hätte da eine Idee für die Besetzung der Hauptrollen. Eine Hilfe war das nicht gerade, aber irgendwie ja schon verständlich. Wahrscheinlich wollten sie möglichst kein Feedback über ihre Mimik geben oder waren schlichtweg einfach konzentriert. Nicht zu vergessen, dass ich heute nicht der erste singende Kandidat war, den sie sich anhörten. Ich versuchte das alles auszublenden und hielt mich voll und ganz an den ebenfalls anwesenden Pianisten. Der würde mich begleiten und mir einen Teil der Arbeit abnehmen. Und der hatte ein freundliches Gesicht.
Noch kurz die Stimmung der Gitarre kontrolliert, einmal kurz ins Mikrofon geräuspert (Nein, nicht: Eins, zwei, drei, Test, Test, Test, Ah, ah, ah) und los ging‘s. „How do you know?“ stand nun das erste Mal auf dem offiziellen Prüfstand. Würde ich den Song so umsetzen können, wie geplant? Würde mich der Song eine Runde weiter bringen? Oder werde ich mich am Ende ohrfeigen können, mit einem eigenen Song angetreten zu sein? Ich zog die Nummer durch, so gut es eben ging. Meine Stimme spielte, soweit ich das beurteilen konnte, mit. Nur mein Herz gab den Wackelkandidaten und liess meine Stimmbänder während der ganzen Darbietung Samba tanzen. Applaus gab‘s keinen, aber das schien Teil des Pokerspiels zu sein. Anschliessend schmetterte ich noch Marc Sways „Heart will turn to stone“ hin und hoffte dabei, dass sich meine Pumpe doch wenigstens ein bisschen dem Verhalten eines Steins annähern würde. Nach zwei Songs war Schluss. Man entschied sich, genug gehört zu haben. „Super, das reicht!“, oder doch eher „Aufhören, es reicht!“? Das würde ich dann in zwei bis drei Wochen erfahren.
Na dann, ab nach Hause!
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